Die neue Rolle der Pflege: Selbstbestimmung oder „Pflexit“?

Die neue Rolle der Pflege: Selbstbestimmung oder „Pflexit“?

Eine Chance auf die neue Rolle der Pflege in Deutschland? Corona hat das deutsche Pflege- und Krankensystem an den Rand der Belastbarkeit gebracht – die allgemeine Wahrnehmung der Pflege aber geändert. dies bietet auch die Chance die Rolle der Pflege zu überdenken. Der Wandel der Rolle der Pfleger in der Gesellschaft eröffnet auch noch Chancen für Pfleger, Pflegeassistenten und auch ausländische Pflegekräfte: Sie können die mediale Aufmerksamkeit und den Respekt der Öffentlichkeit nutzen, um aus der Krise eine Chance zu machen. Die Pandemie hat den Weg für ein neues Selbstverständnis der Pflege geebnet. Gehen muss sie ihn aber selber.

Seit mehr als einem Jahr verkünden Politiker und Offizielle die Überlastung des deutschen Gesundheitssystems und des Personal. Wahlweise heißt es Pflegekräfte, Pflege oder Intensivstationen seien am Rande der Kräfte, wenn Zeitungen, TV-Moderatoren und Politiker den Status quo ausdrücken wollen. Dies wird auf allen Kanälen illustriert: Krankenpfleger in voller Schutzmontur, Abdrücke vom stundenlangen Maskentragen oder weinende Pflegerinnen, die vom einsamen Sterben berichten. Die Pflegekraft als Opfer einer Pandemie, welche die medizinische Versorgung an ihre Grenzen bringt und eine verfehlte Gesundheitspolitik offenlegt. Keine Berufsgruppe ist näher dran, an den Folgen und Gefahren – keine Berufsgruppe leidet mehr darunter. Dennoch, die neue Rolle der Pflege wird bisher kaum analysiert.

Gleichzeitig stilisierten die Medien Pflegekräfte zu Helden, die durch ihren unermüdlichen Einsatz und enorme Kraftanstrengungen das Gesundheitssystem am Laufen halten. In Zeiten großer Verunsicherung sollten diese Helden- oder gar Märtyrerfiguren der Krise ein menschliches Gesicht geben. Weltweit huldigten Graffiti-Künstler den Gesundheitsberufen mit riesigen Wandbildern, in Lettland wurde zum Dank an Ärzte und Pfleger eine Statue vor dem Nationalen Kunstmuseum aufgestellt. Politiker, Fußballvereine und Friseure verteilten Geschenke oder Pizza und kostenlose Termine, von den Balkonen schallte Applaus.

Coronahelden: Neue Rolle der Pflege in Deutschland

Kein Ausweg – „Pflexit“ in den Krankenhäusern?

Viel wurde seit Beginn der Corona-Krise über Pflegekräfte geredet. Auch mit ihnen – doch was sie sagten, wollte nicht so ganz zum Bild der aufopferungsvollen Mutter Teresa mit Mundschutz passen. Sie sagten zum Beispiel „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“, wie Nina Böhmer, die dank ihres gleichnamigen Buches in viele Talkshows eingeladen wurde. Ihr Helden-Image bekam Risse, als sie während der Impfdebatte ihr Selbstbestimmungsrecht verteidigten und sich selbst gegen die Anschuldigung, unsolidarische Impfverweigerer zu sein. Und die Antworten auf die Fragen von Journalisten und Umfrageinstituten sorgten dafür, dass sich ein weiteres Wort in die Schlagzeilen drängte: „Pflexit“. Der Hashtag „#Pflexit“ existiert, in Anlehnung an den britischen Brexit, zwar schon seit einigen Jahren auf Twitter. Doch die drohende Flucht aus dem Pflegeberuf gewinnt nun immer weiter an Brisanz. Die neue Rolle der Pflege bleibt dabei weitgehend unbeleuchtet – auch von Pflegern selbst. Wie kann sich die Rolle in der Gesellschaft ändern?

Kürzlich kursierte die Meldung eines Rückgangs von über 9.000 Pflegekräften während der ersten Corona-Welle. Zwar beinhaltet diese Zahl der Bundesagentur für Arbeit nicht nur Pfleger:innen, die aus Protest selbst gekündigt haben. Dennoch ist sie Teil einer Realität, die eine Verschärfung des Personalnotstandes befürchten lässt. Zunächst sind Gesundheits- und Krankenpfleger neben Erziehern am häufigsten aufgrund einer COVID-19-Infektion krankgeschrieben. Das ergaben Analysen der AOK und der Techniker Krankenkasse. Erhebungen bestätigen außerdem, dass ein großer Teil von ihnen regelmäßig darüber nachdenkt, den Beruf zu verlassen. Dabei beschäftigt sich derzeit kom jemand mit der neuen Rolle der Pflege in Deutschland.

Eine Superheldin, die keine mehr sein will? Ein Märtyrer, der Angst vor einer Impfung hat? Die Pflegekräfte weigern sich, die Rollen zu spielen, die ihnen Medien und Gesellschaft zugeteilt haben. Denn sie haben nichts davon.

Dem Virus wird man Herr – für Pfleger bleibt alles gleich?

Der Pflexit ist keine Folge, sondern nur Begleiterscheinung der Corona-Pandemie. Sie ist nicht Auslöser der prekären Lage, sie richtet lediglich ein Brennglas auf lang bestehende Missstände: unterdurchschnittliche Gehälter, die aus dem gutgemeinten Corona-Bonus eine beinahe höhnische Geste machen. Personalmangel, der auch ohne Quarantäne dazu führt, dass Menschen alleine sterben. Gewinnoptimierung und Bürokratie, die aus Hilfsbedürftigen Zahlen und aus Menschlichkeit einen Kostenfaktor machen.

Genau wie das Virus werden diese Probleme schlimmer, je länger man sie ignoriert. Zwar kündigt die Gesundheitspolitik immer wieder Gegenmittel wie das Pflegepersonalstärkungsgesetz oder die Konzertierte Aktion Pflege an. Spürbar profitiert haben die Pflegekräfte aber bisher noch nicht und auch die viel propagierte Wertschätzung nehmen sie nicht wahr. Je lauter der Applaus, desto weniger scheinen sich die Pflegekräfte gehört zu fühlen. Je öfter Personaluntergrenzen und Arbeitsschutzgesetze gekippt werden, desto schwächer wird das Vertrauen, dass die Politik für ihren Berufs(zu)stand mehr als Lippenbekenntnisse übrig hat.

Fehlende institutionelle Hilfe erschwert die Lage

„Stand jetzt ist die Profession Pflege lediglich diejenige, die zum Teil ad hoc oder über Nacht gefällte Entscheidungen erfährt und dann funktionierend ausführen soll. Ohne an der neuen Rolle der Pflege beteiligt zu sein“, beklagt Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerats, im Newsletter des DPR. Er bemängelt, dass Pflegefachpersonen in den Krisenstäben nicht vertreten sind. „Was eine Pandemie tatsächlich an körperlichen und psychischen Belastungen bedeutet, sehen viele Entscheidungsträger nur statistisch in der Zahl der Krankheitstage.“

Diese Zahl war aber auch vorher überdurchschnittlich hoch, genau wie Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. Offensichtlich also nicht so interessant für die Entscheidungsträger. Deshalb fühlen sich mittlerweile sogar schon die Medien berufen, ihren Helden-Opfern beizuspringen. Das Wochenmagazin Stern startete unter dem Motto „Pflege braucht Würde!“ die bislang erfolgreichste Online-Bundestagspetition und brachte mehr als 325.000 Unterschriften für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege zusammen. Nach der kürzlichen Anhörung im Bundestag steht das abschließende Votum des Petitionsausschusses noch aus.

Eine öffentlichkeitswirksame Aktion, die bei den Pflegekräften Anklang fand – auch wenn man sich fragen muss, warum sie so selten selbst geschlossen auftreten und sich Gehör verschaffen. Anders als zum Beispiel die deutsche Ärzteschaft, hat die Pflege keine starke Lobby. Pflegekammern gibt es nur in einzelnen Bundesländern und sie werden teilweise kritisch betrachtet. In Berufsverbänden sind nur rund zehn Prozent der Pflegekräfte organisiert. Dabei zählen mehr Mitspracherecht und Autorität bei der Ausübung ihrer Arbeit zu den Hauptanliegen dieses Berufsstands.

Quo vadis Pflege? Über eine neue Rolle der Pflege in Deutschland

Damit den Pflegekräften eine neue, verantwortungsvollere Rolle zugestanden wird, müssen sie sich bewusst werden, wie genau diese Rolle aussehen soll – und für die neue Rolle der Pflege einstehen. Sarkasmus und die bloße Verweigerung der Heldenpose reichen nicht aus. Darin liegt die Chance dieser Pandemie. Sie hat das Pflegepersonal in den Fokus gerückt, aber die Aufmerksamkeit hält nicht ewig an. Sinken die Fallzahlen, sinkt auch das Interesse der Medien und somit der Druck auf die Gesetzgeber.

Viele werden wahrscheinlich antworten, einfach nur ihre Arbeit machen zu wollen und keine Politik. Doch letzteres ist nötig, um ersteres wieder zu ermöglichen. Die Pflege ist ein Traumberuf, wenn man ihn im Sinne der Pflegeempfänger und des eigenen Ideals ausführen darf. Was gibt es Schöneres, als Menschen zu helfen, ihnen Angst und Schmerzen zu nehmen, ihnen ein Kranksein, Leben und Sterben in Würde zu ermöglichen? Gerade weil viele Pflegekräfte ihren Beruf als Berufung betrachten, riskieren sie die eigene Gesundheit und müssen oft aufgeben, weil es einfach nicht mehr geht. Mit jedem Menschen, der die Branche verlässt, geht wieder ein Stück Menschlichkeit verloren.

Deshalb ist jetzt die Zeit für rigorose Forderungen, nach deutlich mehr Gehalt und wirksamen Reformen, denn jetzt ist der Wert der Pflege für alle sichtbar. Im Hintergrund dieser Forderungen gilt es, sich als ernstzunehmende Gesprächs- und Verhandlungspartner:innen zu etablieren. Für den Moment, wenn die Corona-Krise bewältigt ist und die Pflege-Krise größer denn je. Die Frustration darf nicht mehr im Kollegenkreis verhallen. Sie muss Energiequelle für organisierten, gezielten und hartnäckigen Protest sein, der die Pandemie nicht zum Anlass sondern zur Grundlage nimmt.

Nach zwölf Monaten mit Corona hat auch der Letzte verstanden, dass Pflege eben nicht jeder kann. Als Konsequenz daraus ein neues Selbstverständnis, eine neue Rolle zu definieren, nimmt den Pflegekräften niemand ab. Wenn sie es schaffen, mitzugestalten, statt nur durchzuhalten, kommen sie dem Kern ihrer Arbeit endlich wieder näher. Wenn sie als Vorbilder den Beruf Pflege erstrebenswert machen, sorgen sie dafür, dass jemand da sein wird, wenn sie selbst Hilfe benötigen. Denn auch sie sind Teil einer Gesellschaft, die keine Superkräfte, sondern Pflegekräfte braucht.

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